Wie zeigt sich ein gesundes/sicheres Bindungsverhalten von Kleinkindern?
Ein sicheres Bindungsverhalten ist durch zwei Verhaltensweisen gekennzeichnet: durch das Bindungs- und das Explorationsverhalten. Sicher gebundene Kinder zeigen einen beständigen Wechsel zwischen beiden Verhaltenssystemen. Gut beobachten kann man das z. B. in einer Krabbelkurs-Situation. Kommen die Eltern mit ihren Kleinkindern in den Kursraum, suchen die meisten Kinder erst mal noch die elterliche Nähe, setzen sich z. B. auf ihren Schoß. Nach kurzer Zeit werden die Kinder immer neugieriger und fangen an, ihre Umgebung zu erkunden. Sie ziehen ihre Kreise. Eltern dürfen sich in diesen Situationen gerne zurücknehmen und ihre Kinder beobachten. Diese kommen nach einer gewissen Zeit zu ihren Eltern zurück, um wieder Bindung „aufzuladen“. Danach starten sie in die nächste Explorationsrunde.
Wichtig ist aber auch: Wenn sich das Kind sicher fühlt, weil es mit seinen Bindungsmenschen zusammen ist und ihm die Umgebung bekannt ist, dann muss es nicht zwangsläufig Bindungsverhalten zeigen. Das kann auch ein positives Zeichen sein. Das Kind vergewissert sich zwischendurch, ob noch alle da sind und spielt dann fröhlich weiter.
Was braucht ein Kind für eine sichere Bindung? Welche Eigenschaften sind wichtig, damit Babys sich bei ihrer Bezugsperson sicher fühlen?
Man kann auf jeden Fall lernen, eine sichere Bindungsperson für ein Kind zu sein. Der wichtigste Faktor für eine gelingende Eltern-Kind-Beziehung ist die elterliche Empathie. Der häufigste Störfaktor ist ein Mangel davon, weil es beständig zu Missverständnissen kommt. Bindungsbeziehungen bergen es in sich, dass man sich nicht immer auf Anhieb versteht. Aber empathischen, feinfühligen Eltern gelingt es, dieses Missverständnis wahrzunehmen und zu korrigieren. Sie erkennen z. B.: „Du bist ja gar nicht müde, du hast ja Hunger!“ Es geht bei der Gestaltung einer sicheren Bindung darum, dem Kind Sicherheit zu geben, dass sein Bedürfnis verstanden wird. Elterliche Feinfühligkeit bedeutet, Signale richtig zu interpretieren und die Bereitschaft mitzubringen, sich über einen langen Zeitraum zu engagieren und präsent zu bleiben, auch wenn es anstrengend wird.
Wichtig auch: Das Geschlecht der Bezugsperson ist nicht entscheidend für eine gute Bindung zwischen Bezugsperson und Kind. Faktoren wie Verlässlichkeit und Feinfühligkeit sind viel wichtiger. Ein sicherer Bindungsaufbau kann natürlich auch mit mehreren Bezugspersonen gleichzeitig gelingen. Sobald Eltern in eine massive Überlastung geraten, kann man ihnen nur empfehlen, dass – sofern verfügbar – mehrere Personen zu bedeutenden Bezugspersonen für das Kind werden.
Wann ist die Bindungsphase am stärksten ausgeprägt? Gibt es einen Zeitpunkt, an dem sie vollendet ist?
Bindung begleitet uns alle ein Leben lang – ich finde, dass dieser Aspekt bzw. diese Sichtweise Eltern auch entlasten kann. Viele Eltern sind heutzutage sehr präsent, sie wissen, wie wichtig Bindung ist, und möchten ganz viel Verantwortung übernehmen. Das heißt zugleich aber natürlich auch, dass ein großer Druck entstehen kann und ebenso die Sorge wachsen kann, etwas in der Eltern-Kind-Beziehung zu beschädigen. Mir ist es wichtig, dass Eltern verstehen: Sie können immer etwas in der Beziehung zu ihren Kindern verändern.
Die ersten drei Lebensjahre sind für den Aufbau von Bindungen zu anderen Menschen sehr entscheidend. Ein Kind erkennt sich mit ca. 18 Monaten erst selbst im Spiegel – vorher hat es diese Selbsterkenntnis noch gar nicht, was sich in der extremen Abhängigkeit von den Eltern ausdrückt. In dieser Zeit merken Eltern auch, ob sie z. B. aufgrund ihrer eigenen Bindungsgeschichte Schwierigkeiten damit haben, feinfühlig auf die Bedürfnisse ihres Kindes zu reagieren. Dann ist es gut, sich Unterstützung zu suchen. Bindung trägt in einem erheblichen Maß dazu bei, ob wir Zufriedenheit in unserem Leben empfinden. Klar, wir können auch ohne starke Bindungen erfolgreich sein. Aber wenn es uns nicht gelingt, Beziehungen mit anderen Menschen zu führen, wie geht es uns dann emotional?
Die Entwicklung einer sicheren emotionalen Bindung des Kindes an seine Eltern wird als bedeutender Schutzfaktor betrachtet – was ist damit gemeint?
Wir wissen aus der Forschung, dass das kindliche Gehirn in den ersten Lebensjahren erheblich durch die Bindungserfahrungen geprägt wird. Das sind wissenschaftliche und rein sachliche Fakten, die in einer hoch emotionalen Debatte wie der um Bindung und Erziehung guttun. Es ist absolut im Sinne des Kindes und seiner Gehirnentwicklung, wenn es vor unnötigen, vermeidbaren Stresserfahrungen geschützt wird.
Wird das Kind ständig allein gelassen – räumlich, aber auch emotional –, dann können zwei Dinge passieren: Entweder hat das Kind dann langfristig so viele überschüssige Stresshormone gebildet, dass es förmlich von Cortisol überflutet wird und Stress zum Dauerzustand wird. Oder es kommt zu einer Cortisol-Unterfunktion – das kann dann passieren, wenn das Kind von seinen Bezugspersonen überhaupt keine Antwort mehr auf seine Bedürfnisse bekommt. Diese Kinder wirken nach außen hin sehr angepasst, sie sind innerlich aber natürlich nicht ruhig. Um beides zu vermeiden, ist es gut, wenn Kinder möglichst viele Bindungshormone wie Oxcytocin entwickeln – und die bekommen sie durch Nähe, durch Körperkontakt, durch Dasein.
Was versteht man unter dem sogenannten Bindungsdruck? Ist Bindung nicht etwas, was automatisch da ist?
Können Eltern auf eigene, sichere Bindungserfahrungen zurückgreifen, dann folgen sie in vielen Fragen ihrem Instinkt. Sie sind dann z. B. verwundert, wenn sie sehen, dass sich andere Eltern vielleicht nicht sofort um ihr schreiendes Baby kümmern. Dafür brauchen sie keine wissenschaftlichen Fakten. Sie spüren, was in diesem Fall zu tun wäre – eben dadurch, dass sie selbst Bindung erfahren haben.
Für Eltern, die immer dann, wenn sie als Kind selbst Bindungsverhalten gezeigt haben, von ihren Eltern eine bindungsvermeidende Antwort bekommen haben, ist der Start in die eigene Elternschaft – und auch langfristig gesehen – oft mit einer größeren emotionalen Arbeit verbunden. Sie müssen sich viel mehr und auch immer wieder selbst reflektieren. Dadurch kann ein innerer Konflikt zwischen dem, was sie selbst gelernt haben, und dem, was ihr Kind wirklich braucht und was sie selbst auch als richtig empfinden, entstehen. Sie stellen zuweilen dadurch auch ihre eigene Kindheit massiv infrage, was auch Trauer und eine innere Bestürzung auslösen kann. Sie fragen sich, wie sie es schaffen sollen, etwas an ihr Kind weiterzugeben, was sie selbst kaum erfahren haben. Doch Eltern kann es auch gelingen, den Kreislauf innerhalb ihrer Familie zu unterbrechen. Eltern, die in diesen Momenten so sehr mit sich hadern und die dann sehr streng mit sich selbst sind, möchte ich sagen: Es ist beachtlich, dass ihr die Ersten in eurer Generation seid, die sich auf einen neuen Weg machen. Ihr habt Zeit, an euch zu arbeiten!
Gibt es ein richtiges Maß für Bindung? Oder auch zu viel des Guten?
Das ist in der heutigen Zeit eine ganz wichtige Frage, weil man damit auch präventiv dem Bindungsdruck entgegenwirken kann. Ein Kind, das zufrieden exploriert, hat in dem Moment kein Bindungsbedürfnis. Es möchte vielleicht sogar für eine gewisse Zeit wirklich in Ruhe gelassen werden. Manche Eltern können diese
ungestörten Explorationsphasen nicht gut aushalten, sie mischen sich ständig ins Spiel ein. Ihnen kann ich nur raten: Genießt diese Momente! Lehnt euch zurück und beobachtet euer Kind einfach nur. Lasst diese Phasen zu und schaut, was sie mit euch selbst machen. Sich bewusst zurückzunehmen – natürlich immer
im Rahmen der Fürsorge- und Aufsichtspflicht – ermöglicht es dem Kind erst,
eigene Erfahrungen zu machen. Bindung muss in diesem Zusammenhang auch kategorisch
von Überbehütung abgegrenzt werden. Das hat nichts miteinander zu tun und sollte nicht vermischt werden.